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  • AutorenbildPatrick Figaj

Ein Gespür von Furcht.

"Ich habe Angst". Wie oft habe ich diese Worte in den vergangenen Tagen gelesen. Und sie häufen sich. Das was in der Ukraine, im Osten Europas, nur wenige Autostunden entfernt passiert, ist kaum zu fassen. Die Aggression Russlands. Nicht zu greifen. Unterschiedlichste Generationen fühlen es: Wir kennen die Gegenwart einer direkten Bedrohung durch Krieg nicht. Wir sind hilflos. Wir haben nur eine Ahnung davon, welches Leid bewaffnete Auseinandersetzungen auslösen. Vielleicht wird diese Angst auch unterbewusst geprägt. Von einer Erinnerung. Die weitaus länger zurückliegt.


Welten von Wahrheiten

Man muss es weglegen. Das Smartphone ist voller Kriegsbilder. Die Streams überflutet von Debatten über Waffenlieferungen. Internationale Bündnisse. Defekte russische Panzer, von Raketen zerborstene Gebäude. Staubige und feuchte ukrainische Straßen. Russische Panzer. Gebrochene Sätze, die Suche nach Wahrheit, die im Krieg zuerst stirbt. Drüben in der Nachbarschaft habe ich das erste Auto mit ukrainischem Nummernschild gesehen. Es gibt Faktenchecks. Mehr denn je. Aber selbst als Journalist musst du dir irgendwann eingestehen: Das kann auch überfordern. Und das ist auch völlig in Ordnung.

Der Tweet der Journalistin Ann-Kathrin Büüsker trifft es besser, als ich es weiter beschreiben könnte:



Das könnte es an dieser Stelle schon gewesen sein.


Punkt.


Sollen sich andere darum kümmern. Fragen von Krieg und Frieden sind so groß. So universell. Sie können nicht den Alltag aller bestimmen. Und nicht jeder muss eine Meinung, eine Position dazu vertreten. Aber da liegt das Problem. Dieser Krieg, diese wenigen Stunden, haben nicht nur fundamentale Gewissheiten über internationale Systeme komplett ins Wanken gebracht. Dieser Krieg öffnet noch ganz andere Erinnerungen.


Kollektive Erinnerungen

Was wir über Krieg wissen, oder zu wissen glauben, ist fest in unser kollektives Gedächtnis eingemeißelt. Hier bei uns sind das in erster Linie schwarz-weiße Bilder von zerbombten Städten, von Stacheldraht umgebene Schützengräben. In moderner Form sind es Betongerippe an staubigen Straßen. Mit Einschusslöchern übersät. Und dann gibt es da noch diese Bilder der Fadenkreuze. Digitales Flimmern. In großer Höhe. Gefolgt von dichten, aufsteigenden Staubwolken.


Was wir jetzt aber sehen, wirft uns zurück. Panzerkolonnen. Ein hasserfüllter Befehlsgeber. Haubitzen. Bombenkeller. Überstürzt flüchtende Menschen. Und europäische Regierungen voller Zweifel und Unsicherheit. In der Sache vereint. Im Vorgehen voller Vorsicht. Auch hier herrscht Angst. Sie wird nur nicht ausgedrückt. Regierungen müssen in solchen Situationen Handlungsfähigkeit beweisen. Zeichen der Schwäche sind keine gute Idee auf internationalem Parkett. Zuletzt lenkte die Bundesregierung am Freitagabend (26.2.22) genau deshalb ein: Auch die Ampel-Koalition ist jetzt für eine gezielte SWIFT-Einschränkung als Sanktion für Russland. Russland wird so vereinfacht gesagt, vom internationalen Zahlungssystem abgetrennt. Aber das nur am Rande.

Furcht ist menschlich. Aber nicht politisch. Und für manche: Nicht zeitgemäß. Die Schriftstellerin und Kolumnistin Jagoda Marinicć hat das treffend beobachtet:



Angst, Furcht, Hilflosigkeit. Vor einem unerklärlichen, für viele so plötzlichen Krieg. Aber: Ausblenden ist keine Option. Die Erinnerung lässt uns keinen Ausweg.


Ich glaube ich habe den Begriff der Epigenetik zum ersten Mal bei der Journalistin Nora Hespers gelesen. Ich bin mir sogar ziemlich sicher. Im Buch über ihren Großvater, den Widerstandskämpfer Theo Hespers. Ein Begriff, auf den ich mich keineswegs stützen will. Zu wenig breit erforscht ist das, was dahintersteckt. Vor allem wenn es komplex wird. Es geht kurz gesagt darum, das Erinnerungen Teil unseres Erbes sind. Wir bekommen ein Stück dessen mit, was unsere Eltern, Großeltern durchgemacht haben. Vor allem dann, wenn es um Kriegserfahrungen geht. Das klingt für sehr viele Ohren mit Sicherheit sehr weit hergeholt. Ich kann das gut verstehen, deshalb - wie gesagt - stütze ich mich hier auch nicht auf die Epigenetik. Aber ich lasse den Gedanken in diesem Zusammenhang zu - gebe ihm Raum: Es gibt viele Geschichten unserer Großeltern. Erlebnisse, die wir weitergeben. Ihre Geschichten, die wir erzählen. Und nicht zuletzt bewegt mich das, was östlich von uns gerade passiert, mehr denn je. Die Furcht in der Ukraine. Die Solidarität in Polen. Es löst etwas enorm kraftvolles aus.


Nie wieder Krieg

Die Menschen meiner Generation - in den 80ern geboren - hatten oft Großeltern, die einen oder gar zwei Weltkriege miterlebt haben. Sie erzählten wenig oder nichts. Aber was sie weitergaben, hat ausgereicht um uns mitzugeben: Nie wieder Krieg.

Ich kann natürlich an dieser Stelle nur für mich sprechen. Aber genau das ist der Grund, warum ich überhaupt immer und immer wieder Geschichten aus der Zeit meines Großvaters weitergebe. Über sein Leben schreibe und rede. Von seinen Erlebnissen erzähle.


Erinnerungen machen uns zu dem, was wir sind. Und wir sind Europäer. Die Geschichte meines Großvaters ist geprägt von Grenzüberschreitungen zwischen heute russischem, polnischem und deutschem Gebiet. Sein Vater wiederum - mein Urgroßvater, kam aus Russland. Es gibt Verbindungen an die ukrainische Grenze. Es verschwimmt, verwischt. Verändert sich. Für Europa. Was wir aber aus dem Erlebten unserer Eltern und Großeltern zum ganz überwiegenden Teil gelernt haben ist, dass wir uns auf einen Grundkonsens von Freiheit und Gleichheit einigen müssen. Über alle Grenzen hinweg. Das macht unser Europa aus. Ein Europa, das verwirrend, verwirrt, uneinig oder zerstreut wirken kann. Politik, die sich bis ins kleinste Detail in unerklärlichen Regelungen verheddert und unterschiedlichste Länder und Mentalitäten verprellt. Aber Europa ist mehr. Und wir merken es jetzt. Europa ist der Zusammenhalt in dunklen Stunden. Ja. Auch Zusammenstehen. Auch Symbolik. Um uns zu vergegenwärtigen, wer wir sind. Um zu sehen: Wir denken im Grunde alle ähnlich. Was unsere Werte betrifft. Werte, die ein Despot nicht haben kann, der Hierarchie als gesellschaftliche Struktur über alles stellt und Freiheit für westliches Gift hält.


Wir sind anders. Wir können auch miteinander leben, wenn wir gegensätzlicher Meinung sind. Wir halten Extreme aus und bekämpfen sie immer wieder mit Worten. Das ist anstrengend, vergießt aber kein Blut. Wir wissen das, weil wir das Leid unserer Vorfahren kennen. Weil wir zuhören. Weil wir uns die Freiheit jedes einzelnen Menschen auf die Fahnen geschrieben haben, um alle zu schützen.


Tage, nicht aus dieser Zeit

Deshalb sind diese Tage und Stunden so schwer zu verstehen. So schwer zu fassen. Sie sind aus der Zeit gefallen. Eine Frage bewegt mich selbst seit Tagen: Es ist die der Verteidigung. Bilder von Menschen, die sich verabschieden. Familien die auseinandergehen. Generalmobilisierung - heißt: Die Männer im wehrfähigen Alter müssen im Land bleiben. Abschiede in eine ungewisse Zukunft. Nur schwer zu ertragen. Auch wenn sie schwer zu verifizieren sind, Bilder von Menschen, die sich mit wenigen Mitteln gegen Soldaten stemmen. Für ihr Land. Kinder in U-Bahn-Schächten. Frauen, die sich mutig russischen Panzern entgegenstellen.

Wie würden wir uns verhalten. Eine utopische Frage? Wenn wir eines gelernt haben, dann dass man jede Frage zulassen sollte. Mindestens mal durchdenken. Ich kann nicht mit einer Waffe umgehen. Viele von uns können das nicht. Es war nie Teil unseres Lebens. Und sollte es auch nie sein. Es war vielmehr Teil unser Idee, genau das in einem freien Europa nicht mehr zu brauchen. Nicht mehr können zu müssen. Jedenfalls nicht in dieser Breite. Und jetzt? Waren wir zu naiv, lassen wir uns zu sehr einschüchtern, erleben wir eine Wiederkehr des nächsten Kalten Krieges? Antworten würden nur in die Spekulation führen.


Angst - ja klar. Ungewisse Wochen liegen vor uns. Aber es sind auch Tage, die uns an das erinnern können, was uns als Kollektiv auf dem Kontinent ausmacht: Unsere Freude an der Freiheit, am Leben, dem Gemeinsamen in allen Unterschieden. Wir müssen nur auf uns selbst hören. Vorurteile weiter abbauen und in den dunkelsten Tagen zusammenhalten. Dann werden wieder hellere Tage kommen. Genau diese Worte waren es, die mein Großvater in einem kleinen Poesiealbum sein Leben lang bei sich trug, heute lese ich sie. Geschrieben in schlechten Zeiten, als Zwangsarbeiter, von jemandem, der ihn kannte. Eine Freundin. Während der Kontinent im Krieg lag. Und trotzdem sollten uns diese Worte alle Kraft geben.



"Leiden kann der, der sich nie beschwert.

Der aushält.

Und sich nicht über den Schaden anderer erhebt."


- Meinem netten Nachbar.

Dem ich mehr helle Tage wünsche.



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