Wir müssen eines im Hinterkopf behalten: Erinnern im Sinne von miteinander sprechen - im Dialog - das verschwindet. Denk‘ ich an #Tadschu, denke ich an einen Menschen, an Opa. Aber es ist eben auch eine Form der gesamtgesellschaftlichen #Erinnerungskultur. Einer kollektiven Erinnerung. Deren Entstehung sich verändert. Mein Vater hat es in einer Rede am Volkstrauertag wie folgt ausgedrückt - und ich möchte das in Auszügen teilen:
"Die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus in Europa geht in diesen Jahren vom kommunikativen auf das kulturelle Gedächtnis über, da nur noch wenige Überlebende des Zweiten Weltkrieges Bericht erstatten können. Wir werden uns bald exklusiv auf die Artefakte unseres kulturellen Gedächtnisses zu stützen haben, auf die Archive und Bücher, auf Filme und Literatur, auf Dokumentationsstätten und letztlich auch auf die Gedenkorte, wie diesen hier am Kirchberg (Bensheim/Hessen), der exemplarisch für das menschenverachtende Ende der Nazis und ihrer Herrschaft steht. Langsam und fast unmerklich wird das dialogische Erinnern von einem widerstreitenden Erinnern abgelöst."
Thilo Figaj, 14.11.2021 (im Folgenden kursiv)
Das gilt für mich universell - auch für diese, unsere Familiengeschichte. Über meine Annäherung an meinen Großvater Tadschu. Sein Leben, das ich erst als Erwachsener verstehen konnte. Obwohl wir miteinander sprachen und ich als kleiner Junge unglaublich viel von ihm gelernt habe.
Deshalb ist es so wichtig, dass diejenigen, die sich damit auseinandersetzen, es weitergeben. Auch wenn es einem hin und wieder so vorkommt, als spreche man damit nur eine kleine Gruppe an: Im Gegenteil. Jede, jeder Einzelne trägt zur Erinnerungskultur bei. Gibt ein Stück hinzu. Profitiert davon. Lebt damit.
Daran zu denken ist wichtiger denn je. Gerade jetzt, in Zeiten von gegenseitigem Misstrauen und Unverständnis. Exakt darum geht es, wenn wir darüber sprechen, was historisch richtig, was falsch ist. Und wo der Kern einer Wahrheit liegt.
"Sicher gab es immer verschiedene Deutungsansprüche an die Vergangenheit, doch nun scheint es, als würde die eine Seite von der jeweils anderen ultimativ fordern, ihre Sicht der Vergangenheit anzuerkennen. Es fehlt Verständnis für die anderen, es bilden sich tiefe Gräben in einer von Konkurrenz, Abgrenzung und Vorwürfen zerklüfteten Erinnerungslandschaft. Vor allem in Osteuropa wird dies sichtbar. Die Erinnerung daran, wie die polnischen Einwohner von Jedwabne ihre jüdischen Nachbarn 1941 in einer Scheune verbrannten, ist nach einer Buchveröffentlichung seit 20 Jahren Streitpunkt der polnischen Erinnerungskultur. Die polnischen HistorikerInnen Barbara Engelking und Jan Grabowski sahen sich im Februar dieses Jahres anlässlich ihrer Forschungen zu Tatbeteiligungen von Polen im Holocaust mit einer Verleumdungsklage konfrontiert. Auf diplomatischer Ebene angelangt ist ein heftiger Streit zwischen der Ukraine und Polen um Opferzahlen und Kollaboration. Polen, so sein Botschafter, habe sich eben dadurch ausgezeichnet, dass es keine Kollaborateure gegeben habe."
Der Blick, weg von unseren Debatten, in andere gesellschaftliche Orte der Erinnerung hilft dem Verständnis:
"Dies sind Diskussionen, die überall in Osteuropa geführt werden. In den Jahren des Kommunismus mit den staatlich verordneten Siegesfeiern zum Ende des Vaterländischen Krieges am 9. Mai wurden, so schien es für uns im Westen jedenfalls, kein Diskurs zu derartigen Themen geführt. Vor allem, so hört und liest man immer wieder, seien jüdische Opfer in den osteuropäischen Ländern schlicht unter den Opfern der Zivilbevölkerung subsummiert und damit als ethnisch-religiöse Gruppe ausgeblendet worden. Besonders deutlich werde dies am Gedenk-Ort in Babyn Jar, wo Einsatzgruppen der SS 1941 mit über 33.000 Menschen die gesamte jüdische Bevölkerung der Großstadt Kiew ermordeten."
Wie unterschiedlich der Umgang mit tiefsitzenden traumatischen Formen von gesellschaftlicher Erinnerung sein kann, zeigt eindrucksvoll das Feature von Sarah Hofmann, das der Deutschlandfunk am 9.11.2021 ausstrahlt. In Erinnerungsmonster wird am Beispiel Israels klar, welche Ebenen des Zurückschauens es geben kann, wie sie sich verschieben, gedeutet werden. Immer auch in Zukunft weiter gedacht werden müssen.
"Etwa seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts ist eine West- Ost Spaltung der Erinnerung zu beobachten. Während bei uns die Weltkriegserinnerung den Holocaust in den Mittelpunkt stellte, brachten die Menschen in Osteuropa ihre eigene Leidenserfahrung auf die Nenner des Totalitarismus als Erfahrung gleich zweier Diktaturen. Angesichts von 27 Millionen Toten in der ehemaligen Sowjetunion ist das auch nicht verwunderlich. Aber wir sollten uns davor hüten, mit unserer westlichen Sichtweise hier belehren oder gar korrigieren zu wollen. Wir haben unsere eigene Erinnerungskultur, wie wir sie heute haben, nicht nur mühsam und manchmal schmerzlich entwickelt, aber eben auch erst seit Anfang der 1980er Jahre. Und natürlich müssen wir Deutsche immer berücksichtigen, dass der deutsche Vernichtungskrieg viele dieser Erinnerungskonflikte überhaupt erst geschaffen hat. Aber eben nicht alle. Für die Menschen in Russland ist es am Tag des Sieges am 9. Mai nicht wichtig, dass Panzer in Paradeformation über den Roten Platz rollen, so wie es die Sowjetunion und ihr Nachfolgestaat seit 75 Jahren von oben verordnet. Es ist landesweit üblich, an diesem Tag in allen Städten und Dörfern bei privat organisierten Umzügen die Porträts der Vorfahren aus dem Großen Vaterländischen Krieg mit sich zu führen. Diese Bewegung von unten, eine Erinnerungsform die keinerlei staatliche Organisation kennt, wurde schließlich so stark, dass selbst Putin sich 2015 genötigt sah, an so einem Umzug teilzunehmen, um nicht den Anschluss an die gesellschaftliche Entwicklung zu verlieren."
Ein kleines Puzzlestück einer erinnerungskulturellen Entwicklung. Die eben in alle gesellschaftlichen Bereiche hineinfließt. Womöglich auch in solche, die sich bislang nicht oder nur kaum mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Denn die dritte, vierte Generation stellen mehr und mehr Fragen. Enkel, Urenkel, die neue Formen der Erinnerung entdecken. Um dann diese anderen Fragen zu stellen, oder sich überhaupt erst trauen, Fragen zu stellen, die bislang nicht denkbar waren. Oder aus Rücksicht nicht gestellt wurden, ob aus falscher Scham oder ehrlicher Rücksicht. Es gibt viele Phasen solcher familiärer Annäherungen und des Austauschs. Klar ist, dass sich mit dem verblassen echter Zeitzeugen eine neue Generation bildet, die prägend für die gesellschaftliche Erinnerungskultur sein wird.
"Wir vergessen im Westen gerne, dass wir erst seit etwa 40 Jahren in Deutschland einen offenen Erinnerungsdiskurs führen. Ein Teil von Deutschland, aus bekannten Gründen, auch erst seit 30 Jahren. Der Eichmann Prozess, der Auschwitz Prozess und andere Prozesse der 1960er Jahre beeinflussten zwar die historische Forschung, bewirkten aber in der öffentlichen Wahrnehmung damals fast nichts. Das änderte sich, so jedenfalls in meiner persönlichen Erinnerung, mit dem 40-jährigen Gedenken an die Novemberpogrome 1978, mit der Fernsehdokumentation über die jüdische Familie Weis, die 1979 erst den Begriff Holocaust in die deutsche Sprache einführte, und schließlich 1985 mit dem Satz von Weizsäckers, dass der 8. Mai ein Tag der Befreiung gewesen sei. Damit sprach er aus, was den Allermeisten unserer Nachkriegsgeneration auf der Seele lag, was aber vielleicht aus Rücksicht auf die Kriegsgeneration bis dahin nicht gesagt wurde. Der Satz wirkte ebenso als Befreiung unserer Erinnerungskultur, in der wir, wie bereits gesagt, zwar nicht gerade monothematisch aber doch sehr bestimmend den Holocaust - und dabei auch recht kurzsichtig in erster Linie das Schicksal der deutschen Juden - in den Mittelpunkt stellten. Deutsche Juden wurden zu Hunderttausenden Opfer der Shoah, sie sind aber nur eine Gruppe der sechs Millionen ermordeten Juden in Europa. Aber auch in Russland haben Jüdinnen und Juden in den Jahrzehnten nach 1945 zahlreiche Gedenkstätten und -tafeln in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion aufgestellt, mit sichtbaren Zeichen wie Davidstern und mit hebräischer Schrift einträchtig neben sowjetischen Symbolen, und sie haben damit auf die ethnische Identität der Opfer verwiesen.
Erinnerungskultur, so stellen wir wiederholt fest, folgt nicht nur Zyklen und Zeiten, sie entsteht vor allem von unten, aus der Bevölkerung."
Das ist ein wichtiger Aspekt. Kollektives Erinnern kann kein staatlich vorgegebenes Gedenken sein. Es sind Einzelschicksale, Millionen, die ein gemeinsames Ganzes ergeben. Das - und das ist das Schwierige - aber in seiner Unterschiedlichkeit zugelassen werden muss. Erinnerungskultur muss offen sein. Für den Diskurs, den Austausch, die Debatte. Sie muss ein gesellschaftliches Gefühl aufgreifen können. Sonst bleibt sie bloße Hülle.
"Das Gedenken mit Inhalten zu füllen ist Aufgabe von uns Bürgerinnen und Bürgern. Die Initiatoren des Kirchberggedenkens (Bensheim/Hessen) tun genau dies in beeindruckendem Maße seit Jahrzehnten. Niemand von ihnen hat für dieses Gedenken jemals das kommunikative Gedächtnis nutzen können, es ist allein dem von ihnen erst geschaffenem kulturellen Gedächtnis geschuldet, dass wir dies überhaupt können."
Um zu reflektieren. Denn auch darum geht es. Geschichte nicht als niedergeschriebenes Erlebnis wahrzunehmen. Sondern Aufgabe, Erinnerung, die gelebt werden muss. Erinnerungskultur kann in ihrer heutigen Form nur präsent sein, wenn sie von Menschen erlebbar gemacht wird. Wenn die Geschichten in unseren Köpfen weiterbestehen. Auch wenn das zum Teil ins Persönliche gehen kann.
"Am 9. Juni 1944, um 7.30 Uhr morgens, verstarb der politische Häftling Lorenz Figaj im Außen-Kommando Wiener Neudorf des Konzentrationslagers Mauthausen in Folge jahrelanger schwerster Zwangsarbeit. Sein Verschulden war es, ein polnischer Kommunist gewesen zu sein. An seinem ehemaligen Wohnhaus, in der Ostrowska 41 in Krotoszyn, brachte die Kommunistische Partei Polens 1963 eine Erinnerungstafel an, in der auf Lorenz Figajs konspirative und agitatorische Arbeit seit 1936 für die 3. kommunistische Internationale hingewiesen wird. Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und nach dem Ende der polnischen KP wird in Krotoszyn öffentlich darüber diskutiert, diese Tafel zu entfernen. Die Begründung ist, es sei das Ziel der von Moskau gelenkten 3. Internationale gewesen, Polen der Sowjetunion anzuschließen. Figaj sei also kein Held, sondern ein Verräter der polnischen Nation gewesen.
Für mich war Lorenz Figaj weder das eine noch das andere, ich kann es nicht überprüfen, dazu fehlen mir die Belege. Selbst wenn ich Dokumente zur Prüfung hätte, fehlte mir das Verständnis vor dem Hintergrund der Geschichte der politischen Entwicklung Polens im 20. Jahrhundert. Was ich aber überprüfen kann, ist das Totenbuch von Mauthausen und die Karteikarten in Arolsen. Und deshalb ist dieser, einer meiner entfernten Vorfahren, in erster Linie ein Opfer des Nationalsozialismus. Er teilt sein Schicksal mit Millionen weiterer Menschen, Opfergruppen, für die es immer noch kein angemessenes Gedenken gibt."
Und immer noch gerungen wird. Zäh.
"Am 9. Oktober 2020 stimmte der Bundestag dem Antrag "Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges stärken und bisher weniger beachtete Opfergruppen des Nationalsozialismus anerkennen" zu. Die vom Bundestag eingesetzten Arbeitsgruppen stehen vor großen Aufgaben. Lassen Sie uns hoffen, dass die neuen Parlamentarier ihrer Erinnerungsverantwortung rasch gerecht werden. Vorbilder zur Umsetzung eines angemessenen Gedenkens für diese Opfergruppen gibt es in ganz Deutschland. Das Gedenken an die hier am Kirchberg (Bensheim/Hessen) Ermordeten gehört exemplarisch dazu."
Behalten wir ihre Geschichten - und jede andere unserer Familien - im Kopf. Um Schicksale unvergessen zu machen. Für eine Gesellschaft, in der Erinnerung an das Monströse nicht nur Last ist, sondern künftige Generationen in ihren Entscheidungen für Menschlichkeit und ein gutes Miteinander bestärken und bereichern kann.
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Besonders zu empfehlen ist in diesem Zusammenhang das ganz frisch erschienene Buch von Martin Aust, Erinnerungsverantwortung, Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2021
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