Eine Audio-Serie. Und was mich dazu bewegt hat. Wenn du "Heimatloser Ausländer" bist, woher kommst du dann?
Es war im Oktober 2015. Der Tag war schon dunkel, die LKW-Rampen auf einem ehemaligen US-Militärgelände in Mannheim grell. Hohe Flutlichter. Dicht zusammengedrängte Gestalten. Alles unklar.
Ich fuhr als Reporter durch die Szene. Als Beifahrer. Ein Mann hatte auf dem Gelände zu tun. Nahm mich mit. Lange Anfahrt über freies Gelände. Baustellenzäune geben Gehwege vor. Überall Gestalten ohne Perspektive. Männer. Frauen. Kinder. Wo sie waren, wussten sie — wahrscheinlich fast alle — nicht. Die Busse, die sie weiterfahren sollten, waren noch nicht da, oder sie kamen doch nicht. Kalte, feuchte Luft.
Meine Gedanken kreisten um diese Szene. Ich war dort. Aber irgendetwas lenkte mich auch an. Denn dieser Moment löste auch etwas aus, das immer wieder mal da war. Schon viel früher.
Herkunft.
Wir sprechen, diskutieren, debattieren in diesem Land viel über Herkunft. Über Heimat. Wobei der Begriff…..nun ja. Wir diskutieren, debattieren angeregt. Mal mehr, mal weniger. Wenn du aber schon als Kind einen Papier-Ausweis – einen schlichten weißen – deines Großvaters in der Hand hast, den du zwar nicht begreifst, aber immerhin verstehst, dass er bedeutet: Der kommt nicht von hier; Dann rücken Szenen wie die auf diesem ehemaligen US-Militärgelände alles in ein anderes Licht. Komplett. Aber das braucht Zeit. Ich stehe dort, wo er stand, wo sie stehen.
Als Enkel eines "Heimatlosen Ausländers" mit polnischen Wurzeln. Stand ich dort. Stehe ich hier. Ein Mann, der sein Land verlassen hatte. Ein Enkel, der nie in seinem Leben mit dem Thema Heimatlosigkeit konfrontiert war. Nicht mal annähernd. Geschweige denn, danach gefragt worden ist. Was vollkommen normal ist. Und irgendwie auch wieder nicht. Denn es ist die bloße Ahnungslosigkeit, die Fragen erst gar nicht stellt.
Und jetzt – in diesem hier – geflüchtete Menschen, die vielleicht wissen, wo ihre Heimat ist. Aber nicht mehr dorthin zurückwollen. Oder können. Oder dürfen. Oder sonstwas. Der Enkel eines von anderen als heimatlos beschriebenen berichtet über Geflüchtete. Und alles das, an ein und demselben Ort. Derselben Stelle. Nur zu einer anderen Zeit. Ein Kreis, der sich schließt.
Dieser frühe Abend war der letzte Auslöser, mich mit der Geschichte meines Großvaters zu beschäftigen.
Wir nannten ihn "Tadschu" - Tadeusz nur manchmal.
Ich habe eine handvoll Dokumente, alte Kladden mit Briefen und ähnlichem, die ich lange nicht verstanden habe. Oder nur zum Teil. Es sind vergilbte Ausweise. Pässe. Durchgangspapiere. Dünnestes Papier. Zerbrechliche Blätter. 70, 80 Jahre alte Spuren der Zeit. Ich betrachtete sie. Legte sie wieder weg. Nahm die Sachen Monate später wieder in die Hand. Alles liegt verteilt auf dem Schreibtisch vor mir.
Alleine die Aura alter Dokumente hat eine gewisse Anziehungskraft. Aber die Zusammenhänge. Sie waren völlig unklar. Überhaupt der Ansatz, dass es einen Zusammenhang geben könnte. Oder sagen wir mal Bedeutung. Kein Gedanke daran. Erstmal nicht.
Ich kannte meinen Großvater.
Was für ein Glück!
Einen großen Teil meiner Zeit als Kind habe ich bei meinen Großeltern verbracht. 2. Stock links. Balkon mit Aussicht auf Kreuzung und Supermarkt. Springbrunnengeplätscher. Blaues Toilettendeckelpolster. Stunden saßen wir an seinem Schreibtisch. Mein Großvater, Opa, hat mir vieles beigebracht. Erzählt hat er mit mir. Von früher wenig. Und gar nichts über seine Zeit im, oder vor dem Krieg. Ich war klein. Aber. Damit war er nicht allein. Im Gegenteil. Unausgesprochenes war der meistgeführte Dialog der Nachkriegszeit. Gemerkt habe ich das erst später. Sehr viel später.
Eigentlich wird mir das erst jetzt bewusst. Während dieser Recherche. Das muss man sich selbst eingestehen: Auch wenn du dich viel mit Geschichte auseinandergesetzt hast. Egal wie. Mit Artikeln. In der Schule. An der Uni. Im Gespräch mit anderen. Erst wenn irgendetwas davon greifbar wird. In den eigenen größeren Kontext hineinrutscht, wird es konkreter. Greifbarer. Manchmal auch verständlicher. 2016 war irgendwie klar: Ich muss die Geschichte meines Großvaters verstehen. Entdecken. Und ich will sie weitergeben. Teilen.
Recherchen, Erzählungen, Berichte aus den 30er, 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts können komplett erschlagend sein.
In ihrer Differenziertheit sind mit einhundertprozentiger Sicherheit viele Geschichten aber nur so zu erzählen. Es braucht diesen überwältigenden Kontext um über Mord, Verfolgung, Ächtung, Hass und unmenschliches Leid erzählen zu können. Über Mut, Glück, Zufälle und Erfahrung. Nur im Großen wird das scheinbar Kleine verständlich. Aber das gilt in manchen Fällen auch umgekehrt: Es gibt Lebensgeschichten, die spielen sich leicht Abseits der Pfade ab, die besonders im 2. Weltkrieg so viel unermessliches Leid erzeugt haben. Im Schatten der breit bekannten Geschichte. Das gilt Generationenübergreifend.
Wirrungen und Irrungen Einzelner, die auf den ersten Blick bekannt erscheinen, und doch so viel Unbekanntes bieten. Um zu verstehen, was noch; Oder auch in dieser Zeit geschehen ist. Wie anders Lebenswege aussehen konnten.
In dieses Land hinein, in dem ich großgeworden bin. Was gar nicht so selbstverständlich ist. Zurückblickend. Überhaupt nicht.
Erst jetzt beginne ich zu begreifen.
Es wird also wieder über Herkunft und Heimat debattiert. Und ich tue das genau hier auch. Es wird gedeutet und erklärt. Am Ende über etwas, was so greifbar ist, wie der Versuch ein ganzes Leben in einen Satz zu pressen.
Doch die Recherche, der Blick zurück in die tiefe Vergangenheit eines Mannes, den ich erst in seinen späten Jahren kannte, offenbart, wie eng Vergangenheit und Zukunft zusammenhängen. Und wie verknüpft unsere Leben sein können, auch wenn wir nichts davon auf den ersten Blick sehen. Wie ein Kleber der Zeit, der unsichtbare Kitt familiärer Beziehung.
Ich habe mich dazu entschieden seine Geschichte als Audio-Serie zu erzählen. Das liegt mir am Nächsten. Schafft vielleicht auch die Chance, Herkunft nicht in Worte fassen zu müssen.
Die Reise hat für mich intensiv noch einmal im Frühjahr 2020 begonnen. Ein Weg zurück. Vom Heute in sein gestern. In dieser Richtung. Ich starte seine Geschichte hier. Um sie am Ende vielleicht an ihrem Ursprung besser zu verstehen. Es ist die Geschichte meines Großvaters Tadschu. Als "Displaced Person" erreichte er Deutschland. Wurde zum "Heimatlosen Ausländer". Sein Heimatland sah er nie wieder. Er entschied sich zu bleiben. Um hier eine Familie zu gründen.
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