Ich weiß nicht wie es ist, Waise zu sein. Ohne Eltern groß zu werden. Zum Glück. Und dennoch stelle ich es mir immer wieder vor. Denn mein Großvater wuchs als Waise in Polen auf. Nur ein paar hundert Meter weiter wird gerade eine Jugendherberge umgebaut. Zum Waisenhaus. Noch sind die Kinder und Jugendlichen aus Kiew nicht da. Doch längst ist klar: Ein Dach über dem Kopf und Betten für alle sind nicht alles.
An der holzvertäfelten Wand hängen selbstgemalte Bilder von Kindern aus der Nähe.Viel Gelb und Blau. Menschen, die sich an den Händen fassen. Freundliche Farben. Freundliche Gesichter sowieso. Wartende Gesichter. Helferinnen und Helfer. Noch ist alles ein Provisorium. Für weit mehr als 100 Kinder und Jugendliche, die aus der Ukraine, aus Kiew, kommen werden. Samt Betreuerstab. Es ist anders als vor 6, 7 Jahren. Eine andere Vorbereitung. Schwer zu sagen, ob es daran liegt, dass viele schon einmal angepackt haben. Ob erwartbarer ist, wer kommt? Klar ist auch jetzt nicht viel. Nur das: Es wird eine schwierige Aufgabe. Und noch steht nur das Ausweichquartier. Denn ein paar Kilometer weiter wird in der für die Waisen vorgesehenen Jugendherberge noch gearbeitet. Eigentlich sollten hier demnächst die Abrissbagger ran. Jetzt werden Heizungen verlegt, es wird gebohrt und geschraubt. Bis alles soweit ist, müssen die Waisen aus Kiew in einer Grundschule unterkommen.
Opa ist, nach allem was ich weiß, ungefähr mit sechs Jahren in das Waisenhaus gekommen, in dem er bis ins Jugendalter gelebt hat. Mitten in Polen. Ein Geistlicher hatte es hier aufgebaut. Ein anderes Waisenhaus war nach dem polnisch-sowjetischen Krieg nicht mehr nutzbar. Die Waisen mussten weg. Weg von der Grenze im Osten. Mein Großvater war zu diesem Zeitpunkt noch nicht dort. Er stieß erst im neuen Haus dazu. Als Waise, der aber durch diesen Krieg erst zum Waisen wurde. Es sind immer wieder diese Parallelen der Zeit, die mich zusammenzucken lassen. Ganze Waisenhäuser, die wegen Kriegen verlegt werden müssen. Kleinkinder, Kinder, Jugendliche, Betreuer. Die, die sich ohnehin mit schwierigen Startbedingungen für ein eigenständiges Leben konfrontiert sehen, müssen mit noch unvorhersehbareren Rahmenbedingungen klarkommen.
Noch sind sie nicht da. Noch nicht angekommen in einer deutschen Stadt, in der Sirenen lediglich für einen jährlichen Testlauf dröhnen. Was in diesen Tagen schon genug Unbehagen auslösen kann. Alles kein Vergleich zu den Nächten in Schutzkellern. Zu Luftalarm, zu Schrapnell-Beschüssen. Situationen, die ich mir nur schwer vorstellen kann. Will. Gar nicht kann.
Muss. Denn es ist eine Zeit, in der sich Geschichte wiederholt. Man muss das ohne einen Unterton genau so benennen. Ein russischer Angriffskrieg. Geführt unter willkürlichen Vorzeichen, der eine Zivilbevölkerung in den Abgrund reißt. Das erinnert nicht nur stark an den Überfall auf Polen. Es gibt viele Parallelen. Auch wenn man nicht den Fehler machen sollte, Dinge gleichzusetzen. Wir leben in einer anderen Zeit, die Rahmenbedingungen sind andere. Die Beteiligten auch. Aber die Fratze des Bösen kann sich nicht maskieren. Sie fällt sofort auf.
Dennoch muss man sich vor Augen führen, was geschieht. Jetzt gerade. Wenn der ukrainische Präsident Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj im Bundestag zugeschaltet den Abgeordneten das Bekenntnis des "Nie wieder!" entgegenruft. Dann zucken wir zusammen. Zu weit weg, zu vage, zu wenig heranlassen wollen wir, können wir vielleicht auch Einordnungen, die sich an die dunkelsten Tage unseres Landes anlehnen. Und dennoch ist es genau das: Nie wieder zuschauen. Und Dinge geschehen lassen. Dazu verpflichtet uns das, was unsere Vorfahren entweder selbst angerichtet haben oder aber erleben mussten. Unsere Erinnerung klopft unüberhörbar an.
Eine Erinnerungskultur, die nicht im Gestern verharren kann. Sondern mit dem Rucksack und der Bürde des Erfahrenen nach Vorne schauen muss. Gerade jetzt.
Im Kleinen sind wir dazu schnell in der Lage. Militärische Unterstützungsleistungen, solidarische Konzerte, Unterkünfte, Spendensammlungen. Wichtige Zeichen, wichtige Schritte. Erste Schritte. Die größte Herausforderung als Gesellschaft ist aber eine andere: Fortschritte werden nicht in Tagen, Wochen, vielleicht nicht einmal in Monaten sichtbar sein. Denn die Herausforderung geht strukturell tiefer. Sie handelt von gegenseitigem Verständnis und Verstehen. Von einer gemeinsamen Vorstellung. Von einer Gemeinschaft, deren Ziele und Vorstellungen universeller sind, als wir sie bislang gelebt haben. Trotz vieler vollgeschriebener europäischer Seiten und Bücher von gesellschaftlicher Gleichheit und Annäherung.
Wir verstehen uns immer noch nicht. Auch wenn es bis weit in den Osten hinein heute keine Mauern mehr gibt (leider aber Stacheldrahtzäune errichtet werden), wir uns frei zwischen den Städten bewegen können. Waren, Straßen, Arbeitskräfte uns verbinden. Die Vorstellung von West und Ost bleibt haften wie ein faserig klebender Kaugummi. Spuren alter Vorurteile lassen sich nur sehr schwer beseitigen.
Opa wurde durch seinen polnischen Bezug sein ganzes Leben in eine bestimmte Schublade geschoben. Wenn auch nicht immer vordergründig. Diese Schubladen bestehen bis heute. Und es wurden nicht weniger, es wurden mehr: Ich bin mit der EU-Osterweitung groß geworden. Zähen Verhandlungen auf europäischer Ebene. Zähneknirschende Annäherungsversuche. Beitritt. Nicht-Beitritt. Nicht so weit-Bekundungen. Wartezeit. Das prägt. Hier. Und dort. Zugehörigkeit anhand von Kriterien ist wirtschaftlich die eine Seite der Medaille. Das dazugehörige Verständnis der allgemeinen Gleichheit aller Menschen etwas anderes. Ein europäischer Grundkonsens basiert genau darauf. Und er muss auch eingehalten werden. Dafür dürfen Europäer aber nicht hingehalten werden.
Wurden sie aber. Zu lange. Auch deshalb müssen Waisen weiterziehen. In eine neue, eine provisorische Heimat. Das Provisorium ist allerdings weitaus mehr, als eine bloße Baustelle aus weißen Zeltplanen oder Baustoffen: Es ist eine provisorische Hoffnung, auf der alles Künftige ruht. Das Provisorium einer zusammenführenden, offenen Gesellschaft. Das Provisorium eines neuen, handlungsfähigeren Europas. Das Provisorium des deutlichen Entgegenstehens gegen Hass und Krieg. Solche Dinge entstehen nicht über Nacht. Es ist ein zäher Prozess. Der seine Wurzeln auch in Turnhallen voller Betten hat.
Ich habe mir immer vorgestellt, wie Opas Nächte im großen Schlafsaal wohl waren. Nicht, wenn alle zu Bett gingen, nicht, wenn alle noch redeten, sich über den Tag austauschten. Erlebtes besprachen. Sondern wie der Moment, wenn alles schlief, ruhig war, wohl war. Wenn er aber noch wach lag. Was dachte er dann? Ich werde es nie erfahren. Aber es wird diese Momente gegeben haben. Und auch die Waisen, Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine, die jetzt bald nur einige hundert Meter von hier einschlafen, werden abends wach liegen. An ihre Stadt, ihre Heimat denken. Wir können unterstützen. In einem ersten Schritt.
Die Perspektive muss aber sein: Heimat bieten - um die Heimat wiederherzustellen. Denn die provisorische Hoffnung vieler beruht auch darauf, ihr gerade zerbrochenes und in Wunden gerissenes Land in einem freien Europa wieder aufbauen zu können.
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