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  • AutorenbildPatrick Figaj

Bitte Kontext: NS-Zwangsarbeit.


Blick auf die zerstörte Fabrikanlage 1943: Tadschu verbrachte über fünf Jahre in Kassel als Zwangsarbeiter.

Im Wahlkampf wird zugespitzt. Soweit ist das auch völlig okay. Man muss es nicht mögen, aber die eigenen Positionen markant zu machen, kann nicht schaden. Oder? Ganz so einfach ist es nicht. Denn da werden Begriffe in die Debatte gezogen, die dort nichts verloren haben. Überhaupt nicht.


Arbeitslose Menschen in die "Pflicht" zu nehmen, eine Art "Arbeitspflicht" einzuführen ist das jüngste Beispiel dafür, wie eigentlich völlig anders besetzte Begriffe ins Schlingern geraten. Denn die Diskussion um eine Pflicht zu Arbeit - was immer man davon halten mag - hat nichts mit Zwangsarbeit zu tun. Gar nichts.


Es sind Tweets wie dieser. Gepostet auf Twitter. Nur ein Beispiel von vielen:


Quelle: Twitter-Tweet

Aber von vorne. Der Tweet bezieht sich auf das, was unter anderem Friedrich Merz, CDU, in die Debatte eingebracht hat. Der findet,


„dass (...) das (Anm. eine Verpflichtung zur Arbeit) ein geeignetes Mittel sein (kann), sie (arbeitslose Menschen) einfach nicht allein zu lassen, sondern sie wirklich auch mal ein bisschen an der Krawatte zu ziehen und zu sagen, ihr müsst euch auch mal um euch selber kümmern.“


Das ist das natürlich Wahlkampf pur. Reibung erzeugen. Auch in jenen Winkeln der Wählerschaft, die schon länger nicht mehr erreicht worden sind.


Merz geht, wenn er das Thema "Arbeitspflicht" aufgreift, auf einen Vorschlag ein, * der in Dänemark diskutiert worden ist.


Noch weiter vorgewagt hat sich zuvor aber bereits die AfD.


"Wer von unserem Sozialsystem profitiert, muss dafür auch in die Pflicht genommen werden können", findet der Berliner AfD-Fraktionschef Georg Pazderski.** Es sei "richtig und gerecht, sie für Tätigkeiten einzusetzen, die sonst unerledigt bleiben."


In beiden Fällen geht es zunächst einmal um die Verpflichtung zur Arbeit. Bei Merz - wenn man so will - noch deutlich zurückgenommener als bei Pazderski. Denn Merz bezieht sich auf Menschen, die seit langem ohne Arbeit sind. Und bei letzterem Politiker geht es konkret um Schutzsuchende. Ich möchte das an dieser Stelle nicht weiter bewerten, jeder möge sich seinen Teil dazu denken. Soweit die Ausgangslage.

Was aber dann passiert ist etwas, das häufig in sozialen Medien, im Grunde täglich, zu beobachten ist. Der Kontext wird ausgeblendet. Es wird weiter zugespitzt. Und zwar auf vielen Ebenen.


Was gesagt wird, gemeint ist - und eigentlich doch ganz anders klingt


Ich meine damit nicht den Kontext dessen, was direkt gesagt worden ist. Denn im Grunde sagen beide: Wer nicht arbeitet, ist faul. Oder ein Schmarotzender. Oder doof. Oder was auch immer einem für Attribute einfallen mögen. Dabei könnte der Ausgangspunkt für die Debatte tatsächlich ein hehres, gerade zu tiefsoziales Moment sein: Menschen, die zurückgefallen sind, wieder an die Gesellschaft heranzuführen. Mit einfachen Aufgaben Anteilnahme zu ermöglichen. Echte Teilhabe. Was seit Jahren nicht klappt.


Ein Grundproblem unserer Gesellschaft. Menschen, die mehr und mehr den Anschluss verpassen. Die nicht mithalten können, weil sie keinen Job finden. Oder nicht mehr finden. Es ist eine der schwierigsten, gleichzeitig aber wichtigsten Aufgaben einer funktionierenden Demokratie, auch Menschen mitzunehmen, die dem Allgemeinwohl eher zur Last fallen, als etwas dazu beizutragen. Wenn man ausschließlich materiell denkt. Warum ich all das in diesem Zusammenhang anspreche? Ganz einfach: Es sind diese Punkte, die im Zusammenhang mit dieser Debatte eigentlich eine Rolle spielen sollten. Sie tun es aber nicht. Denn die Debatte wird begrifflich instrumentalisiert. Durch den Begriff des Zwangs. Zurück zu den Tweets, weiteren Beispielen. Um das erste nicht alleine stehen zu lassen.


Was auffällt: Immer wieder zentrieren sich die Kommentare auf den Begriff der Zwangsarbeit. Merz, der arbeitslose Menschen "auch mal an der Krawatte zeihen möchte" sowie Pazderski sprechen - auch das muss man klar sagen - nicht über Zwangsarbeit. Es geht an dieser Stelle auch gar nicht darum, ob sie etwas in dieser Richtung meinen. Sondern es geht um eine Besetzung des Begriffs in der weiteren Debatte.


Denn als Kritik an dem, was beide Politiker sagen, wird zur Verstärkung der Zwang herangezogen. Aus Pflicht, wird Zwang.


Quelle: Twitter-Tweets


Pflicht heißt nicht Zwang


Die Definition einer Pflicht - um nur ganz kurz darauf einzugehen - entstammt aber eher einer gesetzlichen Verpflichtung. Vor allem in Bezug zu einer moralischen oder auch tugendhaften Bereitschaft, Dinge zu tun. Wenn man sich nicht daran hält, kann das durchaus Nachteile haben. Es besteht aber kein Zwang. Denn der herrscht nur in autoritären Systemen. Einem Zwang kann man sich nicht entziehen, ohne in große Schwierigkeiten zu geraten. Und genau das ist der Punkt. Große Schwierigkeiten hießen im NS: Das war's.


Klar kann man jetzt den Standpunkt einnehmen: So ein Art Zwang schwebt ja denjenigen vor, die von Arbeitspflicht sprechen. Und deshalb ist es legitim, den Begriff Zwangsarbeit damit gleichzusetzen. Ich finde das ist ein Problem. Es verwischt in krasser Weise das, was Millionen Menschen erlebt haben, die im Nationalsozialismus unter Zwang "arbeiten" - besser gesagt - unmenschliches - erledigen mussten. Der Begriff sollte sensibler eingesetzt werden. Auch um sich respektvoll denen gegenüber zu äußern und zu erinnern, die tatsächlich diese Lebenswelt durchleiden mussten. Unter Zwang.


Eine (fast) vergessene Ausbeutung


Wer will, wer sich die Mühe macht, sich näher mit Zwangsarbeit im Dritten Reich zu beschäftigen, findet mittlerweile schnell viele Online-Publikationen, an vielen Orten in Deutschland - darüber hinaus sehr gute Dokumentationsorte, die man besuchen kann. Digitale, aber auch analoge. Engagierte Menschen, die das Leid, dass Millionen Zwangsarbeiter:innen erlebt haben, greifbar machen. Ihre Geschichten erzählen. Oft mit großem Aufwand und jahrelanger Recherche Schicksale wieder greifbar machen. Etwas nachvollzihbarer. Wer sich bisher vielleicht weniger mit dem Thema beschäftigt hat, aber bis hier dabeigeblieben ist:


Eine empfehlenswerte Reportage gibt es beispielsweise hier beim MDR zum Nachhören. Sie heißt "Die späte Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter", und lässt vor allem die zu Wort kommen, die Zwangsarbeit erlebt haben. Betroffene.


Oder auch hier, ein Interview im Deutschlandfunk: „Zwangsarbeit war komplett vergessen und verdrängt“ - Ein Gespräch mit der Leiterin des Berliner Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide. Hörenswert deshalb, weil deutlich wird, wie schwierig es war, überhaupt solche Orte der Erinnerung zu erschaffen und zu erhalten.


(Vor allem eines lässt mich mit Blick auf Tadschus Lebensweg in diesem Gespräch nach wie vor aufhorchen: Beim Thema Aufarbeitung geht es auch darum, dass das Thema so in Vergessenheit geraten war, da fast alle Betroffenen nicht mehr in Deutschland lebten. Zur Erinnerung: Mein Großvater blieb immer in Deutschland. Kehrte nie zurück nach Polen. Er wäre also präsent gewesen. Aber er schwieg.)


Darüber hinaus gibt der Artikel "Heimat wider Willen" einen zwar sehr engen, aber dennoch kurzen und greifbaren Einblick in die Welt von Zwangsarbeitern und sogenannten "Heimatlosen Ausländern", sowie mein Großvater Tadschu ebenfalls bezeichnet wurde. Der Artikel greift aber "Displaced Persons" auf. Dieser Begriff wurde während un nach dem 2. Weltkrieg zunächst von den Alliierten genutzt, um die Millionen Entwurzelten Menschen grob zu beschreiben.


Opfer Zwangsarbeiter:innen


"Es gibt immer noch viele, die 2021 wenig über NS-Zwangsarbeit wissen", sagt die Leiterin des Berliner Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide im Deutschlandfunk-Interview. Ich glaube auch deshalb, weil das Thema wenig in Schulen behandelt wird, sich abseits der großen Geschichtsstränge abspielte. Obwohl rund 13 Millionen Menschen im 2. Weltkrieg Zwangsarbeit leisten mussten. Übrigens: Auch der Begriff Zwangsarbeiter:in ist an sich mehr als komplex. Nur ein kurzes Beispiel: Tadschu war ziviler Zwangsarbeiter. Also nicht in Kriegsgefangenschaft und kein KZ-Häftling. Das betraf 1944 rund 5,7 Millionen ausländische Zivilarbeiterinnen und Zivilarbeiter. Mein Großvater arbeitete in einer privaten Firma, der Spinnfaser AG in Kassel-Bettenhausen. Die aber natürlich relevant für die Kriegsproduktion war - und 1943 deshalb schwer getroffen wurde.

Quelle: Stadtarchiv Kassel

Er lebte dort in einem Lager für Polen und sogenannte Ostarbeiter. Wer "Zivilarbeiter" war, wurde nicht militärisch überwacht. Dennoch galten für meinen Großvater beispielsweise in dieser Zeit die sogenannten "Polenerlasse" - und die hatten bei "Verstößen" durchaus gravierden Konsequenzen. Wer tiefer einsteigen möchte - Folge 3 des Podcasts - die Fabrik.



Die lange Qual der Wortwahl


Und das ist der Punkt. Zwangsarbeit war im Nationalsozialismus nicht nur die bloße Ausbeutung von Menschen, sondern verbunden mit Entwurzelung, Angst, Qual und Unterwerfung. Wer sich dem Wahn der Täter des Dritten Reichs nicht untergeben wollte, hatte eigentlich kaum eine Chance. Im Gegenteil. Für Querulant:innen hieß das: Nächste Stufe. Arbeitslager. Konzentrationslager. Wenn es überhaupt so weit kam. Viele wurden schon vorher ermordet. Mein Großvater hatte - nach allem was ich heute weiß und recherchieren konnte - einfach unglaubliches Glück. An vielen Tagen hätte seine Geschichte auch ganz anders enden können.


Es ist falsch, geradezu irreführend, den Begriff der Zwangsarbeit in den aktuellen Kontext zu heben. Und ist die politische Forderung noch so falsch. Oder unmenschlich. Oder unsozial. Sie hat nichts mit Zwangsarbeit zu tun. Nicht im Geringsten. Natürlich befasse ich mich an dieser Stelle auch mit der Geschichte meines Großvaters, um heute als Enkel eines "Heimatlosen Ausländers" sagen zu können: Schaut da hin! Lasst Hetzer und Ausgrenzer nicht die dominanten Stimmen werden. Lasst sie nicht die Debatten prägen, Vorurteile schüren.


Nur dann muss man sich am Ende auch so ehrlich hinstellen und sagen: Dem etwas entgegenzusetzen darf nicht die Folge haben, Begriffe aus dem Kontext zu ziehen. Es gibt genügend andere Argumente gegen schlechte politische Vorstöße.















* welt.de, am 8. September 2021

** welt.de, am 9. September 2021







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